Grosse Leinwand für leise Filme

 

Nadja Schildknecht hat zusammen mit Karl Spoerri das Zurich Film Festival gegründet. Sie erklärt im Gespräch, weshalb Glamour die Vielfalt fördert – wie das Festival seine leise Seite pflegt – und warum eine Kirchenjury dem Festival gut tut.

Thomas Binotto: Wie überrascht sind Sie, dass am 27. September bereits die 14. Ausgabe des Zurich Film Festivals (ZFF) startet?
Nadja Schildknecht: Die Jahre sind wahnsinnig schnell vergangen. Dennoch fühlen wir uns als Festival immer noch jung. Natürlich wollten wir 2005 in Zürich ein Filmfestival gründen, das sich stetig weiter entwickelt. Und diese Motivation treibt uns nach wie vor an. Vor 14 Jahren wussten wir aber noch nicht, wie hoch der Berg ist oder sein kann. Gottseidank nicht!
Jetzt haben wir viel mehr Erfahrung und sind als Festival etabliert, aber der Weg ist nach wie vor sehr herausfordernd. Jedes Jahr gilt es ganz viel Extra-Energie abzurufen, damit wir mit dem gesamten Team den Gipfel erreichen.

 

Seit 2005 ist das Festival ständig gewachsen – mehr Filme, mehr Sektionen, mehr Preise und Jurys, mehr Zuschauer. Wo sehen Sie neben dem quantitativen das qualitative Wachstum?
Wie schnell man wachsen kann, ohne die Qualität zu vernachlässigen, das ist immer eine grundlegende Frage. Wir durchleuchten das Festival deshalb jedes Jahr sehr genau. Was hat gut funktioniert? Wo können wir uns verbessern?
Selbstverständlich ist es notwendig, immer auch die Qualität zu steigern. Wir wollen allen Filmen und Filmemachern die bestmögliche Plattform bieten. Und zwar für die Grossproduktionen und die Stars genauso wie für sogenannt «kleinen Filme» und die neuen Talente.
Wir wollen ein Ort der Vernetzung sein, wo sich etablierte Regisseure und neue Talente nicht nur unverbindlich austauschen, sondern voneinander lernen können und sich gegenseitig inspirieren.
Und das Filmfestival soll für ein möglichst breites Publikum ein Ort der filmischen Entdeckungen, der Begegnung und der intensiven Gespräche sein.

 

Worin ist das ZFF besonders stark?
Genau darin, dass wir frische Talente mit etablierten Könnern zusammenbringen. Das ist nicht nur für Talente eine Chance. Immer wieder hören wir von erfahrenen Produzenten und Regisseuren, wie sehr sie dieses Zusammentreffen inspiriert. Die Filmemacher profitieren also gegenseitig voneinander.
Würden wir uns ausschliesslich auf neue Talente konzentrieren, könnten wir zudem kaum die Aufmerksamkeit der Medien, der Sponsoren, aber auch des Publikums so stark wecken, wie es nötig ist, damit sich ein solches Festival überhaupt finanzieren lässt. So gesehen tragen die Stars und die grossen Premieren auch zur Förderung des Nachwuchses und der Vielfalt bei.

 

Wie bringen Sie die Talente mit ihren «Lehrmeistern» zusammen?
Zum Herzstück des Festivals gehören die Master Classes. Diese sind nicht einfach nettes Geplauder, sondern intensive Workshops, durchgeplant von morgens bis abends.
Zudem kommen unsere Gäste natürlich auch über Filme ins Gespräch, die sie hier gemeinsam sehen. Oder sie begegnen sich an Events, die gezielt der Vernetzung dienen.
Wichtig ist uns dabei immer: Ob nun Talent oder Star, jeder erhält als Gast seine ganz persönliche und bestmögliche Betreuung. Wir lieben dieses Festival sehr und das spüren unsere Gäste. Wir geben alles, dass alle Filmemacher und Filmemacherinnen das ZFF inspiriert und bereichert verlassen.

 

Seit 2017 gibt es nun auch eine Jury der Zürcher Kirchen. Ist das nicht ein Anachronismus?
Überhaupt nicht! Wir zeigen ganz viele Filme, die gesellschaftspolitische, soziale und auch spirituelle Themen reflektieren, die aber nicht kommerziell ausgerichtet sind und deshalb vielleicht nie im normalen Kinoprogramm laufen werden. Es sind aber dennoch wichtige Filme, die wir sehen sollten – deshalb laufen sie auf dem Festival. Und deshalb finde ich es wichtig, dass die Kirchenjury diese Filme durchleuchtet und beurteilt. Das gibt den Filmen und den Themen, die dahinterstecken, deutlich mehr Gewicht.

 

Auf kirchlicher Seite gibt es Stimmen, die im ZFF lediglich ein kommerzielles Glamour-Event sehen. Was antworten Sie diesen Kritikern?
Dass es schade ist, wenn man das ZFF nur so oberflächlich kennt. Natürlich wird in den Medien hauptsächlich von den Stars und den grossen Premieren berichtet. Aber wir zeigen am Festival insgesamt 160 Filme. Und darunter sind viele, die beeindrucken, berühren, herausfordern, tief gehen.
Wir wollen ein Festival für ein grosses, breites Publikum sein, aber wir haben auch eine leise Seite, und die ist viel ausgeprägter, als man das auf den ersten Blick vielleicht wahrnimmt.
Ich freue mich gerade deshalb sehr, dass immer mehr Festivalbesucherinnen und -besucher diese leise Seite wahrnehmen. Die sich bedanken, weil sie dank des Festivals Filme gesehen haben, die sie sich sonst vielleicht nie ausgesucht hätten. Dass sie Filme entdecken durften, die in der kommerziellen Auswertung keine Chance haben.

 

Gleichzeitig sind sie überzeugt, dass es auch die Gala-Vorführung mit dem roten, respektive am ZFF grünen Teppich braucht. Weshalb?
Ich finde es richtig und notwendig, unsere Filme zu inszenieren. Diese Inszenierung besteht nicht bloss darin, den Teppich auszurollen. Wir wollen jeden Film zelebrieren, der hier gezeigt wird. Wir tun das aus Liebe zum Kino, aber auch aus Respekt vor der Leistung der Filmemacher, die meist jahrelang an ihrem Werk gearbeitet haben.
Das ZFF soll ein Fest für das Kino sein, ein Fest für die Filmemacher, ein Fest für das Publikum. Dazu gehört es, auch mal über den Green Carpet zu gehen. Aber wer das Festival ausschliesslich als Green Carpet-Festival sieht, der hat es nicht ganz verstanden. Das ZFF lädt ebenso dazu ein, sich etwas zu trauen und Ungewohntes zu entdecken. Und auch dazu trägt der grüne Teppich bei.

 

Inwiefern?
Wenn wir nur auf kleinere Produktionen setzen würden, dann wäre es viel schwieriger, die finanziellen Mittel für das Festival aufzutreiben. Filmfestivals sind aber genau der Ort, wo auch die «kleinen Filme» ihren grossen Auftritt auf der grossen Leinwand erhalten sollen. Da werden sie greifbar, da werden sie Gesprächsstoff, weil man nach der Vorführung nicht einfach gleich nach Hause geht. Diese Vielfalt, die ein Filmfestival bieten kann, genau die finde ich so grossartig. Und dazu trägt – unter anderem – auch der grüne Teppich bei.

 

Was erwarten Sie von der Kirchenjury?
Dass sie mit grosser Offenheit die Filme der Fokus-Reihe sichtet. Dass sie sich mit den Filmen auseinandersetzt und intensive Gespräche führt. Und dann hoffe ich natürlich, dass die Kirchenjury auf Filme stösst, die sie tief berühren.
Wenn die Jury-Mitglieder sich darüber hinaus verführen lassen, den einen oder anderen Film anzuschauen, der nicht in der Fokus-Reihe läuft, dann würde mich das zusätzlich freuen.

 

Letzte Frage: Weshalb wird es in 50 Jahren noch Filmfestivals geben?
Weil ein Filmfestival die Möglichkeit bietet, sich aktiv über Filme und ihre Themen auszutauschen. Weil man Filmemacher zusammen mit ihren Werken erleben kann. Und weil man Filme mit 500 Menschen ganz anders erlebt, als wenn man sich diese zu Hause alleine anschaut. Im Kino entsteht eine ganz einzigartige Energie. All das bietet ein unersetzliches Erlebnis.

 

Gespräch: Thomas Binotto

 

Dieses Interview erschien im «forum»
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