Jesus würde heute Filme machen

 

Der neue ZFF-Direktor Christian Jungen über das Kino als Ort der Gemeinschaft, das gewaltfreie französische Kino und sein Interesse an Filmen mit positiven Werten.

Madeleine Stäubli: Kollektives Filmerlebnis statt einsamer Konsum, Smoking statt Trainerhose: Warum ist das ZFF gerade in diesen disruptiven Zeiten so wichtig?
Christian Jungen: Wir sind der erste grosse Kulturanlass in diesem Jahr, der wirklich stattfindet. Dagegen finden Fussballspiele gar nicht oder ohne Publikum statt; vom Dorffest bis zum Zürifäscht fällt fast alles aus. Daher gibt es einen grossen Nachholbedarf. In der Zeit des Lockdowns wurde mir stärker bewusst, dass der direkte menschliche Kontakt unersetzbar ist. Der Reichtum des Menschen ist sein Mitmensch und das Kino lebt vom kollektiven Erlebnis. Menschen kommunizieren im Kino, wo sie zusammen lachen und weinen. In Zeiten, wo Einsamkeit leider stark verbreitet ist, sind Gemeinschaftserlebnisse besonders wichtig. Daher haben wir uns auch früh entschieden, das ZFF sicher nicht als Online-Anlass durchzuführen. Unser Slogan lautet entsprechend: „Aus Liebe zum Kino – aus Freude am Zusammensein“. Nur im Kino und in der Kirche bleibt das Handy stumm, auch darum liebe ich das Kino. Filme prägen sich viel besser ein, wenn man sie im Kino schaut; ich kann mich heute noch genau erinnern, wo und mit wem ich meine besten Filme gesehen habe.

 

 

Viele renommierte Festivals fanden gar nicht statt, zahlreiche hochkarätige Filme hatten keine Premiere. Das  ZFF hat im Frühling mit dem spanischen Filmfestival San Sebastian einen Filmmarkt gegründet und integriert auch Indie-Filme von abgesagten Festivals, die in Zürich einem grösseren Publikum vorgestellt werden. Ist die Erschütterung der traditionellen Festivallandschaft eine Chance für eine grundlegende Neuausrichtung? ?
Ja, auf jeden Fall. In der Krise der vergangenen Monate sind wir mit zahlreichen Institutionen und Festivals ins Gespräch gekommen. Mit Folgen: Mehrere Schweizer Festivals, die wegen Corona nicht stattfinden konnten, dürfen nun einen Film bei uns zeigen, den sie im Programm gehabt hätten.  Im Corona-Jahr sind solche Veränderungen plötzlich möglich; da kann viel Neues entstehen. Unser im April gegründeter Filmmarkt mit San Sebastian macht es überdies möglich, unabhängigen Produktionen eine Plattform zu geben. Diese Entwicklung bietet natürlich die Chance, unser Festival inhaltlich aufzuladen. Zwar ist das ZFF mit den Stars gross geworden; dass etwa ein Silvester Stallone damals nach Zürich kam, hatte im Voraus als unmöglich gegolten. Gleichzeitig muss ein solches Festival aber inhaltlich viel mehr am Start haben, denn punkten kann man vor allem mit starken Inhalten. Dass ich einst in der Fondation Beyeler ein Gespräch mit Wim Wenders führen konnte, hat für mich darum viel mehr Gewicht als einen Filmstar zu gewinnen, der kurz über den grünen Teppich läuft und dann wieder verschwindet.

 

Da passen kleinere und unabhängige Filmproduktionen ins Konzept, die thematisch und narrativ deutlich andere Schwerpunkte setzen als Blockbuster. Ändern Sie als Festivalleiter entsprechend Ihre Kriterien bei der Auswahl der Filme? Setzen Sie inhaltlich neue Akzente?
Ich möchte den Schwenk noch stärker von den Stars zu Autorenfilmern machen. Der Autor und die Autorin prägen einen Film viel stärker als ein Star, der vielleicht an 17 Drehtagen präsent ist. Mich interessieren in erster Linie Gespräche mit Regisseurinnen und Regisseuren, die etwas zu sagen haben. Aber selbstverständlich gehören die Stars weiterhin dazu. Als besonderen Akzent haben wir in diesem Jahr das Gastland Frankreich gewählt, das Mutterland des Autorenkinos. In Frankreich ist in den vergangenen 20 Jahren gerade in den Banlieues eine starke Musikszene und eine neue Generation von jungen und multikulturellen Regisseurinnen und Regisseuren entstanden, die starke sozialkritische Filme drehen und Klischees von der angeblich dekadenten „Grande Nation“ widerlegen. Diese talentierten jungen Filmschaffenden, darunter auch Frauen wie etwa Céline Sciamma, haben viel Interessantes zu erzählen und bieten alles andere als typisch bourgeoises Cineastentum. Dieses neue französische Kino und seine aufstrebenden Stars wollen wir am diesjährigen ZFF vorstellen.

 

Daneben scheint nun die Frage nach der Präsenz der beiden Zürcher Kirchen am ZFF fast ein wenig marginal zu sein…
Nein, die Kirche ist gar nicht marginal. Das Kino ist ein Spiegel der Gesellschaft und zu dieser gehört die Kirche. Ich finde es gut, dass wir eine Jury aus zwei Landeskirchen haben und ein Zeichen für die Ökumene setzen. Man hat diese zeitweise belächelt, aber heute merkt man mehr und mehr, dass es wichtig ist, miteinander zu sprechen. Das Kino wie auch die Kirche arbeiten mit Bildern, erzählen Gleichnisse, die den Menschen viel zu sagen haben. Der Unterschied zwischen Filmen und biblischen Geschichten ist nicht so gross. Ich habe das Gefühl, wenn Jesus heute auf die Welt käme, würde er Filme machen. Es ist das Medium, das die Kirche haben müsste, um Menschen anzusprechen. Denn das Wort ist begrenzt. Klar, die Hegemonie der Schriftlichkeit bleibt bestehen, aber die jüngere Generation wächst selbstverständlich mit bewegten Bildern auf, daher ist es gut, wenn sich die Kirche auch um dieses Medium bemüht. Ich habe übrigens als Journalist immer gegen Gewalt im Kino angeschrieben, dabei Zustimmung erhalten und mir gelegentlich auch die Finger verbrannt. Denn ich bin überzeugt: Die kulturelle Definitionsmacht des Kinos ist riesig, der Einfluss von Filmen auf Menschen ist prägend. Darum ist es so wichtig, dass es Filme mit positiven Werten gibt – und dass die Kirche nicht einfach wegschaut und sagt: Das geht uns nichts an.

 

Kino als Vermittler von religiös besetzten Werten?
Das Kino ist ein Medium der Empathie, denn es lässt mich die Welt durch die Augen einer anderen Person sehen. Ich kann als heterosexueller Mann im Kino „Brokeback Mountain“ schauen und weinen, weil ich mich fühle wie ein schwuler Mann. Das kann Kino extrem gut und darum wäre es durchaus ein ernstzunehmendes Medium auch für die Vermittlung von religiösen Inhalten. Es ist eigentlich erstaunlich, dass es eine grosse religiöse Literatur gibt, aber kein Filmschaffen, das die christlichen Werte zum Ausdruck bringt. Mit Ausnahme von Terrence Malicks Spätwerk gibt es kaum ernstzunehmende Filme, die ein christliches Anliegen behandeln, die man etwa mit Konfirmanden anschauen könnte.

 

Sie haben stets gegen Gewalt angeschrieben. Die massiven Gewaltdarstellungen in aktuellen Filmen etwa auf Netflix müssten Sie eher unglücklich stimmen.
Ja, das ist abstumpfend und langweilig. Da bin ich sicher geprägt durch meinen Glauben.  Ich bin zwar kein Missionar und sitze nicht als Christ hier, aber ich bin sehr ablehnend bei Gewaltverherrlichung, ich toleriere sie nicht und bin überzeugt, dass sie schädlich ist.  Ich finde es schade, dass Gewalt als Attraktion einen derart hohen Stellenwert hat. Auch hier zeigen uns französische Filmemacher, dass die schönsten Filme gänzlich ohne Gewalt auskommen können. Als Kurator muss ich ohnehin gut überlegen, was ich dem Publikum zumuten kann und welche Werte ich vermitteln will.

 

Zwischenmenschliches steht ja auch bei jenen kleineren Produktionen im Vordergrund, aus denen die Jury der beiden Landeskirchen ihren Favoriten wählt.  Wie schätzen Sie die Bedeutung von derartigen „tiefgründigen“ Produktionen ein?
Tiefgründige Produktionen wollen wir auf jeden Fall weiterhin zeigen, denn das Kino ist ja ein Spiegel des Lebens und wir wollen Auseinandersetzungen mit existenziellen Fragen fördern und auch mit unserer Medienarbeit das Publikum für anspruchsvolle Werke begeistern. Bei all diesen Überlegungen bleibt natürlich der Anspruch, gute Geschichten gut zu erzählen.

 

Gute Filmgeschichten wie der 2019 am ZFF kirchlich prämierte Film „Waren einmal Revoluzzer“ können ethische oder religiöse Themen differenziert aufgreifen, etwa indem sie menschliche Abgründe einfühlsam ausloten. Haben Sie persönlich ein Interesse an Filmen mit religiös-spirituellen Inhalten?
Mich hat das spirituelle Kino stets interessiert. Im Gymnasium gründete ich einen Filmclub und zeigte dort als erstes die polnische Filmreihe „Dekalog“ von Kieslowski über die zehn Gebote. Später fiel mir immer wieder auf, dass viele der spannendsten Filmemacher Katholiken sind. Aber auch ein Ex-Katholik ist ein Katholik; selbst beim antiklerikalen Furor eines Bunuel, Fellini oder Almodovar kann niemand die katholische Prägung negieren, selbst wenn ihre Filme den Katholizismus ablehnen. Man kann mit seiner religiösen Erziehung brechen, aber wirklich abstreifen lässt sie sich nicht. Auch Ingmar Bergmann ist religiös geprägt, nämlich durch und durch protestantisch. Meist erkenne ich an einer Produktion deutlich, ob ihr Regisseur katholisch oder reformiert ist.

 

Verschwindet Religion nicht gerade rasant aus dem öffentlichen Fokus?
Als Journalist habe ich immer wieder angeregt, religiöse Themen aufzugreifen, denn wenn man nur ein wenig an der Oberfläche kratzt, sind diese Themen gleich wieder da. Auch wenn heute viele Menschen nicht mehr oft in die Kirche gehen oder austreten, bleiben religiöse Fragen präsent. Im Alter poppen sie wieder auf, ebenso in Krisenzeiten; latent sind sie immer von Bedeutung.  Allerdings sollte nicht die Drohbotschaft, sondern die Frohbotschaft im Vordergrund stehen. Nun, die Kirchen haben eine wichtige Rolle in der Gesellschaft und darum freut es mich, dass sich der Filmpreis der Kirchen am ZFF etabliert hat und weiterhin präsent sein wird.

 

Gespräch: Madeleine Stäubli

Christian Jungen, 47, wuchs in Winterthur auf und studierte in Zürich Italienisch, Geschichte und Filmwissenschaften. Er promovierte als Filmwissenschafter und arbeitete während 25 Jahren als Filmkritiker, unter anderem bei der NZZ am Sonntag, wo er als Ressortleiter Kultur wirkte. Zudem war er Redaktionsleiter des Filmmagazins Frame, Präsident des Schweizerischen Verbandes der Filmjournalisten und Mitglied der Zürcher Filmkommission. Von Jungen sind zwei Bücher erschienen: „Hollywood in Cannes“ und die Biografie „Moritz de Hadeln – Mister Filmfestival“.